Im Januar und Februar 2021 fand in Deutschland der zweite bundesweite Bürgerrat statt. 160 per Los ausgewählte Menschen diskutierten in zehn Online-Sitzungen insgesamt 50 Stunden über die „Rolle Deutschlands in der Welt“.
Auf meine Einladung hin kamen nun viele MdB-Kolleg:innen und Mitarbeitende zusammen und lauschten gebannt, als uns zwei Vertreter:innen des Bürgerrats die Ergebnisse vorstellten.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte die Schirmherrschaft für den Bürger:innen-Rat übernommen. Neben dem inhaltlichen Thema soll es darum gehen, eine neue Form der Bürgerbeteiligung im Parlament zu testen und zu entwickeln. Mehr Demokratie e.V. hat sich in Kooperation mit der Initiative ‘Es geht LOS’ um die Organisation und Finanzierung des Bürgerrats gekümmert.
Die Ergebnisse haben uns zwei Vertreter:innen des Bürgerrats nun vorgestellt. Maya Loewe, eine 17-jährige Schülerin aus Freiburg und Anand Kumar, ein 49 Jahre alter Vermögensberater aus Darmstadt berichteten von diesem spannenden Prozess. Christine Nierth und Roman Huber, beide im Bundesvorstand von Mehr Demokratie e.V., ergänzten.
Räte funktionieren als “Mini-Deutschland”
Es wurde deutlich, dass Bürger:innen-Räte ein besonders tolles Instrument sind, um eine Brücke zwischen Politik und Bürger:innen zu schlagen. In einer Art „Mini-Deutschland“ kommen viele unterschiedliche Perspektiven zusammen. Es werden Zielkonflikte und Dilemmata diskutiert und man erkennt, welche Positionen mehrheitsfähig sind und wo es stark unterschiedliche Meinungen gibt. Und viele Mitglieder der Bürgerräte berichten, dass sie mehr Verständnis für die oft komplizierten und langwierigen politischen Entscheidungsprozesse entwickeln, wo sie jetzt selbst Teil davon waren. Das Ergebnis ist eine ausführliche Sammlung von konkreten Empfehlungen für Deutschlands Außenpolitik: buergergutachten2021.pdf. Erfreulicherweise ist ein Großteil der Empfehlungen sehr nah an unserem Grünen Wahlprogramm.
Wir Grüne sind von den Konzept so überzeugt, dass wir dazu einen Antrag verabschiedet haben, in dem wir ein Beteiligungsgesetz zur Einführung bundesweiter Bürger:innenräte vorschlagen: https://dserver.bundestag.de/btd/19/278/1927879.pdf
Zusammenfassung der Ergebnisse:
1) Im Leitbild findet sich, was den Austauschprozess in allen Reisegruppen geprägt hat. Eine Orientierung auf grundlegende Werte und die Diskussion darüber, ob Deutschland ein Vorbild ist und sein sollte. Diese vielleicht typisch deutsche Frage wurde schlussendlich von den Bürgerinnen und Bürgern kritisch reflektiert. Werte müssen nach innen gelebt werden, damit sie nach außen glaubwürdig vertreten werden können. Am Ende der Bürgerrat-Reise halten die Teilnehmenden als Leitsätze für die Außenpolitik fest:
a. Deutschland soll in der Rolle einer „Partnerin und Vermittlerin“ mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Im Zentrum des Auftretens sollen Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Wahrung der Menschenrechte sowie Frieden und Sicherheit stehen. Dafür muss die deutsche Politik zunächst den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
b. Durch innovatives und inspirierendes, zugleich aber selbstkritisches und konsequentes Handeln kann Deutschland von anderen Ländern als Vorbild angenommen werden.
2) In der Reisegruppe Wirtschaft und Handel betonen die Teilnehmenden, dass sich Deutschland für Fairness und Nachhaltigkeit im internationalen Handel einsetzen soll.
a. Konkretisiert wird dies unter anderem in der Forderung nach einem Lieferkettengesetz zur Einhaltung menschenrechtlicher, sozialer und ökologischer Standards.
b. Eine gewisse Begrenzung erfährt die Forderung nach einem freien Welthandel ohne Handelshemmnisse dadurch, dass auch in der Gestaltung internationaler Handelsbeziehungen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das Wertefundament bilden sollen.
c. So soll Deutschland zusammen mit anderen demokratischen Staaten unter anderem ein stärkeres Gegengewicht zur Handelsmacht China aufbauen.
3) Die Reisegruppe Europäische Union stellt fest, dass Deutschland in und mit der EU eine größere Rolle in der Welt spielt.
a. Deswegen soll die EU-Außenpolitik durch Mehrheitsentscheidungen schlagkräftiger und dadurch schrittweise und themenfeldbezogen eigenständig werden.
b. Weil die Einheit Europas für Deutschland von so hohem Interesse ist, empfiehlt die Reisegruppe, nur dann, wenn anders keine Lösungen zu erreichen sind, in der Migrationspolitik auf eine Koalition der Willigen zu setzen, damit die fortgesetzten Verletzungen der Menschrechte an den EU-Außengrenzen beendet und die Schutzsuchenden gerechter verteilt werden können.
4) Die Reisegruppe Frieden und Sicherheit beantwortete die Frage, ob und wie sich Deutschland militärisch in der Welt engagieren soll und welche zivilen Möglichkeiten zur Vermeidung und Beilegung von Konflikten zur Verfügung stehen.
a. Im Ergebnis plädiert die Gruppe dafür, Prävention zu stärken, die Ausrüstung der Bundeswehr zu modernisieren und sie als eine Truppe aufzustellen, die vor allem friedenssichernde und humanitäre Aufgaben übernimmt.
b. Zivile Friedenssicherung wird als gleichwertige Ergänzung eingeordnet. Die Ausgaben für den Verteidigungshaushalt sind entsprechend anzupassen.
5) Die Reisegruppe Demokratie und Rechtsstaat befasste sich mit der internationalen Zusammenarbeit und dem Verhältnis zu Autokratien und kam im Ergebnis zu einer Doppelstrategie. Die Verletzung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien soll Deutschland überall in der Welt konsequent ansprechen, sich zugleich aber auch darum bemühen, mit autokratischen Staaten im Gespräch zu bleiben.
a. Aus Gründen der historischen Verantwortung und kulturellen Nähe soll zu Russland ein partnerschaftliches Verhältnis gesucht werden, auch um demokratische Werte zu vermitteln. Mit China ist Deutschland nicht in vergleichbarer Weise verbunden.
b. Außerdem soll sich Deutschland für eine Reform des UN-Sicherheitsrates einsetzen.
6) Reisegruppe Nachhaltige Entwicklung: Nachhaltigkeit, Klimaschutz, das Recht auf sauberes Wasser und die Bekämpfung des Welthungers gehören nach Ansicht der Reisegruppe ins Zentrum des politischen Handelns.
a. Aus diesem Grunde soll das Ziel der Nachhaltigkeit Aufnahme ins Grundgesetz finden und ein Nachhaltigkeitsministerium eingerichtet werden.
b. Um das Ziel, die Lebensgrundlage künftiger Generationen zu sichern, sind detaillierte Vorschläge zum Umbau der Wirtschaft, insbesondere der Landwirtschaft, erarbeitet worden.
c. Aus Sicht der Reisegruppe ist es notwendig, mit dem Wachstumsparadigma zu brechen. Um darauf hinzuwirken, soll Deutschland in der Welt Nachhaltigkeit und Klimaschutz fördern und dadurch Bewusstseins- und Verhaltensänderungen anstoßen.