Zum Jahreswechsel habe ich mich mit meinem SPD-Bundestagskollegen Bernd Westphal zum virtuellen Doppelinterview mit der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung getroffen. Es ging in unserem Gespräch u.a. um den Umgang mit der Corona-Krise, deren wirtschaftliche Folgen und um den Kohleausstieg.
Das Interview mit den Redakteuren Tarek Abu Ajamieh und Jan Fuhrhop aus der Ausgabe vom 2. Januar 2020 möchte ich in Auszügen hier dokumentieren:
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Was meinen Sie, wie lange der aktuelle Lockdown noch bleibt?
Westphal: Wir müssen uns an den Zahlen des Robert-Koch-Instituts orientieren. Es wäre unseriös zu sagen, im März ist alles gelaufen. Wir müssen die Disziplin aufrechterhalten.
Wenn Heimbewohner und über 80-Jährige, die einen großen Teil der Corona-Patienten in den Krankenhäusern ausmachen, geimpft sind – wären dann nicht deutliche Lockerungen möglich?
Westphal: Entscheidend ist die Stabilisierung des Gesundheitssystems. Wir sind im Landkreis Hildesheim gut aufgestellt mit vier Krankenhäusern, dem Gesundheitsamt, gutem Personal und guter Ausstattung. Ich kann mir von daher schon vorstellen, dass wir im Frühjahr eine spürbare Entspannung bekommen.
Von Holtz: Man kann nichts versprechen. Wir können aber nicht ewig weiter solche Lockdowns machen, wo ganze Branchen pauschal betroffen sind, das ist nicht gerecht.
Wie meinen Sie das?
Von Holtz: Viele Gastronomen zum Beispiel haben viel investiert, Hygienekonzepte umgesetzt und halten sich an die Regeln. Wir müssen weg davon, ganze Branchen zu schließen. Wer die Vorgaben erfüllt, sollte öffnen dürfen. Verstöße, und davon sehe ich gerade in Berlin viel in der Gastronomie, sollten mit vier Wochen Schließung bestraft werden. Aber eben individuell.
Sollten die Schulen am 11. Januar wieder öffnen?
Von Holtz: Wir waren 2015 und 2016 sehr kreativ bei der Unterbringung von Geflüchteten. Warum nicht auch bei der Entzerrung von Schulen? Aber zu öffnen ist auch eine Frage der Bildungsgerechtigkeit. Und Kinder müssen sich sehen.
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In diesen Tagen startet die Corona-Impfung in Deutschland. Werden Sie sich impfen lassen?
Von Holtz: Ja.
Westphal: Auf jeden Fall.
Eine Impfpflicht soll es nicht geben. Doch Restaurants, Veranstalter oder Reiseanbieter könnten die Impfung zur Bedingung machen, ob sie jemandem Zutritt oder Teilnahme gewähren. Ist das legitim? Oder sind politische Regelungen dafür nötig?
Westphal: Das ist ja nicht ganz neu. Als es im Kreis Hildesheim den Masern-Ausbruch gab, hatte ich in Berlin Besuch von einem Hildesheimer Gymnasium. Da kam nur die halbe Klasse – dem Rest hatte das Gesundheitsamt die Teilnahme verboten, weil die Masern-Impfung fehlte.
Von Holtz: Wenn Restaurants oder Veranstalter die Impfung zur Bedingung machen, könnte man das nachvollziehen. Staatliche Vorgaben dazu halte ich für falsch, da es ja auch keine Impfpflicht gibt.
Gibt es nicht Berufsgruppen, für die eine Impfung doch Pflicht sein müsste, etwa in der Pflege?
Westphal: Jeder Patient und jeder Heimbewohner hat das Recht auf eine nicht infektiöse Pflegekraft. Eine Impfpflicht kann daraus aber nicht entstehen. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass Krankenhäuser oder Heime die Impfung künftig zur Einstellungsvoraussetzung machen.
Von Holtz: Ich warne aber auch vor einer Phantom-Diskussion. Ich glaube, die Impfbereitschaft bei Pflegekräften ist sehr hoch, ich habe noch nichts Gegenteiliges gehört.
Haben Sie generell Sorge, dass sich zu wenig Menschen impfen lassen könnten?
Westphal: Ich denke, die meisten sind optimistisch und sehen das Licht am Ende des Tunnels. Ich mache mir keine Sorgen.
Von Holtz: Die Skepsis entsteht ja durch das Unbekannte. Ich glaube, mit dem Erfolg steigt auch die Bereitschaft weiter. Die meisten Bürger haben ja noch Monate Zeit, sich das zu überlegen.
Stichwort Pflegekräfte: Die wurden dieses Jahr öfter zu Helden stilisiert, aber außer Applaus gab es nicht viel.
Auch nicht mehr Geld. Die meisten kamen auch nicht in den Genuss des staatlichen Corona-Bonus. Kommt da
noch was?
Von Holtz: Ich sehe es bei der Bundesregierung derzeit nicht. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.
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Wir haben wieder einen Lockdown. Wie lange kann es sich der Staat noch leisten, die Folgen für die Unternehmen
zumindest abzufedern?
Westphal: Was die Krise erfordert, können wir leisten. Wir haben die Reserven, die Wirtschaft weiter zu stabilisieren. Ein Beispiel: Deutschland hat 16 Prozent der Einwohner der EU, aber 50 aller staatlichen Corona-Hilfen werden in Deutschland eingesetzt.
Viele Solo-Selbstständige und Künstler empfinden das ganz anders und fühlen sich vergessen.
Westphal: Das mögen einzelne Empfindungen sein. Die meisten sind zufrieden mit den Soforthilfen und Überbrückungsgeldern, auch Reisebüros, Gastronomen und Veranstalter.
Von Holtz: Da bin ich ganz anderer Ansicht. Künstler, auch Selbstständige wie Webdesigner, wurden ein bisschen vergessen. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zum Beispiel haben dafür Lösungen gefunden. Aber die sollte es bundesweit geben.
Westphal: Ich habe das Gefühl, das wird hochstilisiert. Mit dem Neustart für Soloselbstständige und den Überbrückungshilfen III wird genau der Gruppe geholfen. Und ja, zur Not muss man auf die Grundsicherung zurückgreifen. Wie andere Menschen, die ihre Arbeit verlieren, auch.
Von Holtz: Das geht doch völlig an der Realität vorbei! Was soll eine Künstlerin mit Fortbildungen und Umschulungen, die dann ja auch dazu gehören, anfangen? Die braucht ihre Auftritte, die will ihre Kunst zeigen!
Westphal: Ich sehe das anders. Ich denke, unsere Hilfen greifen. Meine Mitarbeiterinnen und ich haben auch Künstler aus dem Wahlkreis schon auf die sehr zielgenauen Maßnahmen hingewiesen.
Zu den Auswirkungen der Krise gehört, dass der stationäre Einzelhandel leidet, während der Onlinehandel noch stärker boomt. Wie sieht die Hildesheimer Innenstadt im Jahr 2025 aus?
Westphal: Die wird weiterhin attraktiv sein und ein Ort, an dem man sich gern aufhält. Ich bin zum Beispiel zwar nicht so der Shopping-Typ und muss mich aufraffen, wenn ich mal eine Hose brauche, aber ich bin zum Beispiel auch gern auf dem Markt oder in der Fußgängerzone. Zu Weihnachten kam jedenfalls kein Paket von Amazon bei mir an.
Von Holtz: Die Hildesheimer Innenstadt ist schon attraktiv. Das wird auch 2025 so sein, aber dafür müssen auch Kommunal-, Landes- und Bundespolitik etwas tun. Händler und auch Kommunen brauchen Unterstützung, um gestalten zu können. Corona ist aber auch ein Beschleuniger. Auch kleine Läden bieten Versandhandel oder Abholservice an, das kann ein zweites Standbein werden. Dass man auch online schauen kann: Was bieten die an? Es wird sich schon was ändern, aber ich glaube, Hildesheim ist auch 2025 attraktiv, ja.
Neben Corona sind der Klimawandel und damit einhergehend die Energiewende ein Megathema unserer Zeit. Nun startet der Kohleausstieg. Der Bund versteigert quasi das Abschalten von Steinkohle-Kraftwerken: Wer am wenigsten fürs Stilllegen verlangt, darf als Erster. Mit der Folge, dass ein altes Kraftwerk wie Mehrum am Netz bleibt, aber ein gerade einmal fünf Jahre altes wie Hamburg-Moorburg wieder vom Netz geht. Ist das etwa ökonomisch und ökologisch sinnvoll?
Westphal: In der ersten Runde war der Anreiz besonders hoch. Das hat dazu geführt, dass es auch für Betreiber großer, neuerer Kraftwerke interessant war. Für Moorburg gibt es ein Standortkonzept mit Wasserstoff, wie es auch für Mehrum angestrebt wird. Klar, eigentlich ist es ein Wahnsinn, dass ein fünf Jahre altes Kraftwerk vom Netz geht, aber das ist eine unternehmerische Entscheidung. Und es ist auch in der Wirtschaft klar, dass wir aus den fossilen Energieträgern raus müssen.
Von Holtz: Der Ausstieg soll ja bis 2038 vollzogen werden, das ist zu spät, uns läuft die Zeit davon. Dazu gehört zudem auch die Förderung der erneuerbaren Energien, die jetzt beschlossene Erweiterung des EEG ist aus meiner Sicht auch viel zu zögerlich. Das wird uns auf die Füße fallen.
Westphal: Wir steigen zugleich aus der Kernkraft aus, und wir brauchen Versorgungssicherheit. Der Kohle-Plan, den ich ja auch mit ausgehandelt habe, ist sehr gut, er ermöglicht den Ausstieg auch für 2035.
Von Holtz: Aber es gibt keinen klaren Plan. Wir müssten uns zum Beispiel verpflichten, dass wir bis 2030 zumindest die 20 schmutzigsten Kraftwerke abschalten.
Zur Energiewende gehört auch der Ausbau der erneuerbaren Energien. Doch gerade bei der Windkraft stockt es. Ist es in Deutschland zu leicht, Windräder zu verhindern?
Westphal: Man muss sich manchmal auch entscheiden zwischen Klimaschutz und Artenschutz. Artenschutz ist auch sehr wichtig, aber kann in jedem Fall eine bestimmte Vogelart ein Windrad ausbremsen?
Westphal: Man muss sich manchmal auch entscheiden zwischen Klimaschutz und Artenschutz. Artenschutz ist auch sehr wichtig, aber kann in jedem Fall eine bestimmte Vogelart ein Windrad ausbremsen? Ich meine nein.
Von Holtz: Das ist eine schwierige Abwägung. Wobei es manchmal auch so ist, dass Bürgerinitiativen den Artenschutz ein Stück weit vorschieben. Da geht es dann eigentlich gar nicht um den Rotmilan, sondern darum, dass Anlieger keine Windräder wollen und nach Argumenten suchen. Umweltverbände und Windkraft-Branche müssen an einen Tisch, um das einmal grundsätzlicher zu diskutieren.
Da könnten Sie in einer künftigen schwarz-grünen Bundesregierung ja mehr Einfluss nehmen.
Von Holtz: Na ja …
Westphal: Über Koalitionen wird nach dem 26. September gesprochen.
Unter Beteiligung der SPD?
Westphal: Ich glaube, ein progressives Linksbündnis könnte Reformen in stärkerem Maße umsetzen als die jetzige Konstellation.
Von Holtz: Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Grünen an der Bundesregierung beteiligt sind, egal mit wem. Nur dann sind die nötigen großen Schritte bei Klimaschutz und CO2-Einsparung machbar.
Also Rot-Rot-Grün?
Von Holtz: Grün-Rot-Rot wäre eine Variante.
Westphal: (Lacht) Das war ja klar!
Von Holtz: Das ist aber nicht so einfach. Das wären ja nicht nur wir beide, da wäre auch Die Linke dabei. In vielen Bereichen kann man mit denen gut arbeiten, aber ihre Außenpolitik zum Beispiel ist eine Katastrophe.
Westphal: Stimmt. Aber man muss mit denen tanzen, die im Saal sind. Erstmal kämpft jeder für sich, wobei ich schon finde, dass Ottmar von Holtz und ich ein gutes Team sind.
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Haben Sie sich als Abgeordnete genug einbezogen gefühlt bei den Entscheidungen im Zuge der Corona-Krise?
Von Holtz: Einerseits ja. Die Kanzlerin hat sich regelmäßig mit allen Fraktionsvorsitzenden getroffen. Beim neuen Infektionsschutz-Gesetz wurden explizit auch zehn Punkte aufgenommen, auf die wir Wert gelegt hatten. Wir fühlen uns auch in der Opposition einbezogen und ernst genommen.
Aber?
Von Holtz: Schwierig fand ich die Entscheidungen, die in der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten getroffen wurden. Aber dank des neuen Gesetzes werden die Länderparlamente künftig beteiligt.
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Hatten Sie eigentlich in den vergangenen Monaten Gespräche mit sogenannten Querdenkern oder Verschwörungstheoretikern, oder ist da für Sie eine Grenze erreicht?
Westphal: Keineswegs. Ich habe rund um die Verabschiedung des neuen Infektionsschutz-Gesetzes 350 Mails bekommen. Die habe ich alle beantwortet und in 20 Fällen auch selbst angerufen, da waren die Absender ganz überrascht. Die Gespräche haben oft zu mehr Verständnis und größerer Einsicht geführt.
Von Holtz: Man muss die Querdenker-Bewegung von den einzelnen Menschen und ihren Sorgen und Ängsten trennen. Da muss man im Dialog bleiben, vor dem Rechtspopulismus warnen. Da hatte ich viele interessante Gespräche, auch wenn man sich nicht immer einig wurde. Die Querdenker-Bewegung halte ich allerdings für schädlich.
Wie erleben Sie die AfD im Bundestag?
Westphal: Wenig hilfreich, keine Vorschläge. Die stänkern, motzen und provozieren, die sind über. Die stören den Ablauf, verstoßen gegen die Hygieneregeln, geben sich die Hand, setzen den Mundschutz nur nach Aufforderung durch den Präsidenten auf …
Von Holtz: Die AfD sucht sich immer neue Themen. Über Geflüchtete redet sie kaum noch, nun ist es Corona. Sie versuchen immer, auf einer Welle des Protests zu reiten. Ihre Anträge im Bundestag allerdings sind oft fehlerhaft, schlecht recherchiert und handwerklich katastrophal.
Sind sie eigentlich erleichtert, dass Donald Trump abgewählt ist, oder wird mit seinem Nachfolger Joe Biden vieles auch nicht leichter?
Westphal: Wir haben viel Arbeit vor uns. Das transatlantische Verhältnis ist unter Trump schlechter geworden, die Skepsis gegenüber der EU wächst. Bei meinen Gesprächen mit Amerikanern oder der US-Botschaft in Berlin merke ich, dass wir uns in einigen Bereichen voneinander entfernt haben.
Von Holtz: Das Verhältnis zu den USA war schon unter anderen Präsidenten schwierig. Wichtig an der Niederlage Trumps ist, dass ein Wortführer gegen den Multilateralismus weg ist. Also gegen weltweite Zusammenschlüsse oder Kooperationen zur Bekämpfung von Pandemien, Hunger und so weiter. Ich glaube, da wird Biden das Rad zurückdrehen.
Stichwort Rad zurückdrehen. Kann es für die Briten eine Rückkehr in die EU geben, oder sind Sie einfach froh, dass
die nun raus sind?
Westphal: Wenn sie zurückwollen, muss man Brücken bauen.
Von Holtz: Sehe ich auch so. Großbritannien ist ein wichtiger Teil Europas.
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