Meine Sommertour stand in diesem Jahr ganz im Zeichen von Kunst und Kultur in Coronazeiten. Nach den vielen Gesprächen und Eindrücken mit Kunstvereinen, einzelnen Kulturschaffenden, soziokulturellen Einrichtungen und dem Dachverband, kommunalen und staatlichen Kultureinrichtungen ist mir eines klar geworden: den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft, in Coronazeiten sprechen wir gerne von „Systemrelevanz“, diesen Stellenwert müssen wir mehr würdigen.
Vom Projektbüro 2025 in Hildesheim zum Thema Kulturhauptstadt, über den Arbeitskreis Gedenkstätten in Salzgitter zur Bedeutung von Erinnerungskultur, den Kunstverein Wolfsburg im Schloss zu Herausforderungen von Ausstellungen in Zeiten von Corona bis zur Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel und dem LOT Theater in Braunschweig. Auf 18 Stationen meiner Tour wollte ich vor allem eines: Kunst und Kultur zu Wort kommen lassen.
Erinnerungsarbeit ist wichtiger Teil unserer Kultur
Besonders beeindruckt hat mich der Besuch des sogenannten „Ausländerfriedhofs“ Jammertal in Salzgitter-Lebenstedt. Seit 1943 wurden hier zunächst die Arbeiter und Arbeiterinnen, ab 1945 die Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen der Reichswerke „Hermann Göring“ in Einzelgräbern begraben. Durch das genaue Koordinationssystem der Ruhestätten finden hier noch heute Hinterbliebene letzte Ruhestätte ihrer Vorfahren – dank der akribischen Arbeit des Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V.. Es ist wichtig sich zu verdeutlichen, dass auch diese Erinnerungsarbeit ein wichtiger Bestandteil von Kultur ist.
Die Videokonferenz mit Mitgliedern der freien Kulturszene Hildesheims war ein Highlight meiner Tour. Vom Theaterhaus, über die Kulturfabrik Löseke bis zur freischaffenden Dirigentin aus dem Landkreis: alle schilderten ihre momentane Situation. Das gibt zum Teil Hoffnung, wenn beispielsweise berichtet wird, dass
selbst online basierte Formate durch Spenden fast so gut laufen, wie früher über den Ticketverkauf. Aber es macht auch Sorge, wenn die Angst vor dem „Danach“ deutlich wird. Die Angst, dass der Rotstift später zur Finanzierung der Corona-Kosten als erstes bei der Kultur angesetzt wird.
Beim Besuch im LOT Theater in Braunschweig, das seine Räumlichkeiten in einer ehemaligen KFZ Werkstatt für Busse gefunden hat, bestätigen sich die Berichte aus der Videokonferenz vom Vortag. „Wir gehören zu denen, die langsam sterben“ – so fasst der Geschäftsführer der freien Spielstätte die Situation zusammen. Das freie Theater konnte sich durch Konstitutionsförderungen in der Krise ganz gut halten. Wie es auf lange Sicht, bis Ende des Jahres oder im nächsten Jahr weitergehen kann, ist aber auch hier noch fraglich. Gleichzeitig legt die Covid-19-Pandemie Defizite schonungslos offen, die vorher schon da waren: Die freien Spielstätten in Niedersachsen sind strukturell unterfinanziert, hangeln sich selbst auf Grundlage von verschiedenen Projektförderungen durch das Jahr. Eine Spielstättenförderung des Landes könnte hier Abhilfe schaffen – was in anderen Bundesländern gut funktioniert, sollte doch auch in Niedersachsen möglich sein!
Musik-Projekt über Grenzen hinweg
Im Center for World Music der Universität Hildesheim habe ich mich mit Professor Vogels, Dr. Michael Fuhr und Professor Julius Heinicke, sowie dem aus Nigeria per Video zugeschalteten Professor Abba Tijani der Universität Maiduguri und Dr. Nepomuk Riva ausgetauscht. Sie arbeiten gemeinsam an einem vom Bundesentwicklungsministerium geförderten SDG Graduiertenkollegs “Performing Sustainability – Cultures and Development in West-Africa” in Kooperation mit den Universitäten Maiduguri, Nigeria, und Cape Coast, Ghana. Ein wirklich toller Austausch! Hier wartet man gespannt auf die Genehmigung der neuen Fördermittel für einen weiteren Zyklus internationaler Zusammenarbeit. Dieses Projekt kann so viele Brücken schlagen, was sich beispielsweise an der Aussage von Professor Tijani zeigt, dass das Interesse der meisten Studierenden der Forschung für Frieden und Stabilität gelte.
Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel wollte ich schon lange einmal besuchen. Nun hat es endlich geklappt! Die Bibliothek beeindruckt nicht nur mit ihren Räumlichkeiten – zum Beispiel der Augusteerhalle, in der sich bis zur Decke hoch die Handschriften und Drucke aus
verschiedenen Jahrhunderten aneinanderreihen. Als internationale Studien- und Forschungsstätte verwaltet und sichert die Bibliothek einen Bestand von um die 1 Millionen Medieneinheiten. Allein der Altbestand von Medien vor dem Jahr 850 beläuft sich auf 400.000 Einheiten, in der Regel Bücher. In der Ausstellung „Leuchtendes Wort. Sprechendes Bild“ können noch bis zum 27. September 2020 einzigartige Handschriften aus der Klosterschreibstube Weißenburg aus den Jahren 800 bis 870 bewundert werden – sehr zu empfehlen! Doch auch die Bibliothek musste unter Corona-Pandemie ihren üblichen Betrieb schließen. Das belastete vor allem die Forschungsprojekte, denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten nicht wie geplant anreisen.
Kultur trägt viel zum Gelingen einer vielfältigen Gesellschaft bei
In Wolfsburg durfte ich die aktuelle Ausstellung des Kunstvereins im Schloss besuchen. „Alles eine Frage der Energie“ lautet der diesjährige Titel. Sehr interessante Interpretationen die unter diesem Titel zu sehen sind – ich kann einen Besuch nur empfehlen. Der Fokus des Kunstvereinsprogramms, unter Leitung von Dr. Justin Hoffmann, liegt auf Künstlerinnen und Künstlern der jüngeren Generation, deren künstlerische Arbeiten relevante Antworten zu Fragen der Zeit liefern. Ein Jahresthema, das nach den Kriterien sozialer Wichtigkeit und Aktualität ausgesucht wird, liefert den inhaltlichen Rahmen für die verschiedenen Projekte eines Jahres. In der Selektion der Künstler für die jeweiligen Ausstellungen wird versucht, regionale und überregionale Überlegungen zu verbinden. Danke an die Wolfsburger Grünen, dass ihr diesen Besuch organisiert haben!
In Hildesheim habe ich mich auch mit der Initiative “Nordstadt.Mehr.Wert” und dem Verein “Brücke der Kulturen” getroffen. Bei beiden wurde mehr als deutlich, welchen Beitrag Kultur zum Gelingen einer vielfältigen Gesellschaft beitragen kann. Ein besonderes Problem haben die Migrantenselbstorganisationen, da sie nie rein kulturell oder im Sport oder in der sogenannten Integrationsarbeit tätig sind, sondern von allem etwas bieten. Dadurch fallen sie oft durch das Raster von Förderrichtlinien, was sich gerade in der Coronakrise als besonders nachteilig erweist.
Nötig sind sichere Förderung und weniger Bürokratie
Am Ende vereint eines alle, die auf Fördermittel angewiesen sind: die Ungewissheit, wie es nach Corona weitergeht. Wir brauchen ein Kulturfördergesetz, das eine verlässliche Finanzierung der etablierten und der Soziokultur sichert. Und das dazu beitragen kann, Kultur aus den Zwängen der freiwilligen Leistungen von Kommunen zu befreien. Wenn die derzeitige Krise überstanden ist, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Kulturszene endlich die Wertschätzung erhält, die sie verdient: durch längere Förderzeiträume, Strukturförderungen und weniger Bürokratie.
Vielen Dank an diese Menschen und Institutionen, die ich bei meiner Sommertour getroffen habe:
- Oliver Graf – Theater für Niedersachsen, Hildesheim
- Thomas Harling und Lene Wagner – Projektbüro 2025, Hildesheim
- Maike Weth – Arbeitskreis Stadtgeschichte e.V. – Besuch „Ausländerfriedhof“ Jammertal, Salzgitter
- Christian Raupach u.a. – TV38 BürgerTV Fernsehen zwischen Harz und Heide – Studio Salzgitter
- Freie Szene Landkreis Hildesheim per Videokonferenz (Theaterhaus, Licht.n.Stein, Kulturfabrik Löseke, IQ, Anke Lorenzen, RAM – Kindertheater, stateoftheart), Hildesheim
- Sabine Zimmermann, Jürgen Zinke, Britta Nickel-Uhe, Kim-Denise Uhe, Wilfried Obornik – Netzwerk Kultur & Heimat, im Kunsthaus Nordstemmen
- Natascha Feyer, Frank Auracher, Max van Kampen, Katrin Bode, Jochen Grön, Ekkehard Domning – nordstadt.mehr.wert/ Projekt NordstadtStrand, Hildesheim
- Martin von Hoyningen Huene, Uta Lorenz (Projektarbeit) – LOT Theater, Braunschweig
- Prof. Dr. Eckhardt Fuchs – Georg Eckert Institut, Braunschweig
- Thomas Muntschick – Radio Tonkuhle, Hildesheim
- Prof. Dr. Raimund Vogels, Prof. Dr. Julius Heinicke, Dr. Michael Fuhr, Prof. Dr. Abba Tijani, Dr. Nepomuk Riva – Centre for World Music, Hildesheim
- Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss – Bundesakademie für kulturelle Bildung, Wolfenbüttel
- Prof. Dr. Peter Burschel – Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
- Hanne Bangert, Christiane Mielke – Brunsviga Kultur- und Kommunikationszentrum und Landesverband Soziokultur, Braunschweig
- Dr. Justin Hoffmann, Kunstverein Wolfsburg, Wolfsburg
- Siggi Stern, IQ, Hildesheim
- Dilek Boju, Brücke der Kulturen, Hildesheim
- Detlef Hartmann, Musikschule, Hildesheim