Das neue Magazin “Perspektiven” des Metis-Instituts der Universität der Bundeswehr stellt die Frage “Afrika – der aufsteigende Kontinent?” In seinem Beitrag “Aspiration und Grenzen deutscher Afrikapolitik” unterstreicht Ottmar von Holtz, dass es im eigenen, auch wirtschaftlichen Interesse Deutschlands und Europas ist, Entwicklung in Afrika nachhaltig zu fördern:

Das Wort „Afrika“ ruft bei uns – je nach Vorerfahrung oder persönlicher Disposition – entweder romantisierende Safari-Szenen vor Sonnenuntergangs-Landschaft oder dramatisierend-verstörende Bilder von Hunger und Bürgerkrieg hervor. Sowohl die Idylle als auch die Vorstellung vom Kontinent der „vier K“ (Katastrophen, Krieg, Krankheit und Korruption) sind pauschalisierende Zerrbilder. Doch wer vermittelt diese? Und was ist eigentlich „Afrika“?

Den Blick auf das heutige Afrika soll zunächst eine kurze Einbettung in den historischen Kontext einleiten. Es ist ja nicht so, dass es vor der europäischen Kolonisierung auf dem afrikanischen Kontinent keine Staatswesen gegeben hat. Afrika ist nicht ein „Kontinent ohne Geschichte“, wie viele es heute noch versuchen zu erzählen – leider sogar bis in hohe Regierungskreise hierzulande. Die Kolonialherrschaften der Franzosen, der Briten, der Deutschen und der Belgier haben dann aber verhindert, dass sich seit den 1880er-Jahren in Afrika funktionierende Staaten haben herausbilden können. Die Strukturen, die sich damals in einer Zeit tief greifender Umwälzung zu formieren begannen – das Zulu-Reich im südlichen Afrika, die Reiche der Chokwe und Luba im Kongo, das Ashanti-Königreich im heutigen Ghana, um nur ein paar wenige zu nennen – alle diese damals neuen Strukturen haben wir Europäer zerschlagen.

Prägungen durch Kolonialismus, Befreiung und Diktaturen

Afrika hatte dadurch nie die Chance, sich selbst zu entwickeln. Wir Europäer zwangen den Menschen in Afrika unsere Kultur auf. Die Kulturen Afrikas hatten nicht mehr die Gelegenheit, sich eigenständig voneinander abzugrenzen oder zu vermengen. An der Berliner Afrika-Konferenz 1884, während der die neuen Grenzen der Kolonien gezogen wurden, war kein Afrikaner beteiligt. Afrikaner waren keine handelnden Personen ihrer eigenen Geschichte mehr.

Mitte des 20. Jahrhunderts kam die Zeit der Aufstände gegen die Kolonien. Und mit ihnen die Zeit der Diktatoren, die ihre Herrschaft damit begründeten, dass sie ihre Länder befreit hätten. Es herrschten Eliten, die ironischerweise zumeist in den Kolonialländern ausgebildet wurden. Daraus ergaben sich lang anhaltende Diktaturen oder rasche Abfolgen von Machtwechseln mit der Folge dauerhafter Instabilität. Die neuen, unabhängigen Staaten blieben in den kolonialen Grenzen gefangen.

Erst das Heranwachsen jüngerer Generationen, die diesen „Befreiungsmythos“ nicht mehr kannten, hat es möglich gemacht, dass sich afrikanische Gesellschaften zunehmend von ihrer kolonialistisch geprägten Geschichte und deren Nachwehen emanzipierten. Die Loyalität gegenüber den sogenannten Befreiern schwand langsam dahin (1). In den 1990er-Jahren purzelten die Einparteienregime – nicht überall, aber in vielen Ländern. Doch wie es ist mit Umwälzungen dieser Art, Afrika blieb weitgehend instabil.

Schwerreiche Eliten, kleine Mittelschichten und florierende Schattenwirtschaft

Denn die alten Systeme, derer man sich entledigen wollte, wurden durch nichts substanziell Neues ersetzt. Aus dieser Zeit stammen zwei Phänomene, die Afrika bis heute prägen: Zum einen ist eine schwerreiche afrikanische Unternehmerelite und zum anderen eine kleine Mittelschicht mit bescheidenem Wohlstand und viel Bildung entstanden.

Eine grundlegende Schwäche in der Wirtschaft des neuen Afrikas ist, dass die Unternehmerelite im Schatten der früheren Diktaturen groß geworden ist. Es gibt eine zu enge Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik. Es ist außerdem vielerorts ein militärisch-industrieller Komplex entstanden, der zwar Motor einer ökonomischen Modernisierung sein kann, zugleich aber Garant für einen politischen Stillstand ist.

Zwei entscheidende Probleme resultieren aus dieser Sachlage: Der neuen gebildeten Mittelschicht fehlt es an Arbeitsplätzen. Und es gibt große Teile der Bevölkerung, die gar nicht am Fortschritt partizipieren: Mangelnde Bildung, mangelnder Zugang zu Gesundheits-Dienstleistungen, eine Bevölkerungsexplosion auf dem Lande und eine enorme Zuflucht in die Städte sind die Folgen.

Doch die Menschen müssen überleben. Und so ist im Schatten der Großunternehmen und der bescheidenen Mittelschicht eine florierende Schattenwirtschaft entstanden. Dort kann man bei näherem Hinsehen einen enormen Erfindungsreichtum entdecken. Das postkoloniale Afrika ist noch nicht fertig. Es befindet sich aber in einem Prozess tief greifenden Wandels. Hier und dort schneller, anderswo nur sehr schleichend.

Nötig sind differenziertere Perspektive und koordinierteres Handeln

Doch treten wir noch einmal einen Schritt zurück und fragen: Gibt es dieses „eine Afrika“ überhaupt? Haben wir diese „eine Lösung“ für alle Herausforderungen auf diesem riesigen Kontinent?

Ich glaube, dass die Kunst einer guten Afrikapolitik darin besteht, länderweise genau die oben beschriebenen Kontexte zu berücksichtigen. Es gilt also, erstens die historischen Wurzeln der jeweiligen heutigen Situation aufzuarbeiten und zweitens die verschiedenen Interessensgruppen – die politische und die Wirtschaftselite, die Mittelschicht sowie die Schattenwirtschaft, die alle ihrer eigenen Logik folgen – zu berücksichtigen.

Entwicklungszusammenarbeit mit afrikanischen Ländern ist weiterhin eine wichtige Aufgabe, aber sie stellt uns vor viele Fragen: Ist unsere Entwicklungspolitik, so wie sie jetzt ausgerichtet ist, zeitgemäß und erreicht sie, was sie will? Wollen „die Afrikaner“ sie so? Und wer sind „die Afrikaner“? Wer in den Ländern sind unsere Verhandlungspartner? Und wen stärken wir damit? Wie viel Wert legen wir auf Rechtsstaatlichkeit? Wie wichtig ist die Legitimation, dass unsere Gegenüber am Verhandlungstisch berechtigt sind, für „ihre Leute“ zu sprechen? Sind nur Regierungen unsere Partner oder auch NGOs, die sich für Menschenrechte und für Benachteiligte einsetzen?

Ich finde, das deutsche Afrika-Engagement ist leider ein wenig von Hilflosigkeit geprägt. Die Bundesregierung hat keine klare Afrika-Strategie. Jedes Ministerium überlegt sich seine eigene Linie: Das Entwicklungsministerium macht einen sogenannten „Marshallplan“, der durch diesen Namen Erwartungen weckt, die nie erfüllt werden können. Das Finanzministerium hat den „Compact with Africa“. Das Forschungsministerium hat eine eigene Afrikastrategie. Das Verteidigungsministerium hat seine Ertüchtigungsinitiativen. Und alle haben keine Antwort auf das Engagement Chinas.

Rechtsstaatlichkeit fördern, Handelspartner gewinnen

Es wäre angesichts dieser Befunde sicher ungerecht, die deutsche Afrikapolitik als uninspiriert zu bezeichnen. Aber das Vorgehen der Bundesregierung ist leider unkoordiniert, wirkt darum planlos und geht in vielen Punkten an den Erfordernissen vorbei. Aber ich will gar nicht alles schlechtreden. Dem Begriff „Reformpartnerschaften“ kann ich zum Beispiel tatsächlich etwas abgewinnen. Wenn es wirklich darum geht, Reformbemühungen zu unterstützen, dann ist das gut. Aber bitte nicht diese Art von Reformen, wie sie der IWF immer einfordert. Stattdessen brauchen wir Reformen auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit.

Auch das Konzept „Ertüchtigung“ ist eines, was man tatsächlich gut aufgreifen könnte. Aber die Frage ist, wen ertüchtigen wir und wofür? Die derzeitigen sogenannten “Ertüchtigungsinitiativen“, die die militärische Grenzsicherung in den Mittelpunkt stellen, haben nichts mit der Art von Ertüchtigung zu tun, die notwendig ist: Nämlich die Zivilgesellschaften zu stärken, Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, Perspektiven für die Menschen in Afrika zu schaffen.

Zu glauben, dass wir Afrikas Probleme lösen helfen, indem wir Migrationsbewegung unterbinden, ist ein Irrglaube. Zwar sind sich offensichtlich alle in diesem Punkt einig, Migration müsse gestoppt werden. Unmengen an Ressourcen werden darauf verwendet, Wanderungsbewegungen zu unterbinden. Aber zwei Aspekte werden dabei sträflich vernachlässigt. Erstens: Wir verlieren die Ursachen der zumeist verzweifelten Migration aus dem Blick. Und zweitens: Wir unterbinden eine jahrhundertealte Tradition der Binnenmigration.

Wenn wir über eine Afrikastrategie nachdenken, sollten wir das vom Ende her tun: Was wäre, wenn Afrika eine ökonomische Basis hätte – eine funktionierende Industrie und Landwirtschaft, die mit unserer mithalten kann? Das wäre doch für uns das Paradies! Was hätten wir für Möglichkeiten, mit unseren Technologien eine Zulieferindustrie zu sein, was hätten wir für Handelsmöglichkeiten! Es muss doch in unserem ureigenen Interesse sein, die Märkte in Afrika zu stärken statt sie zu schwächen. Doch mit den EPA-Freihandelsabkommen tut die EU das genaue Gegenteil.

Langfristig liegt ein ökonomisch schwaches Afrika nicht in unserem Interesse – und zwar nicht aus Furcht vor mehr Migration, sondern weil wir mit einem sich gut entwickelnden Afrika einen starken Partner gewinnen. Wir können mit unserer eigenen Wirtschaft dafür sorgen, dass dort Steuern gezahlt werden und dass multinationale Konzerne in die Pflicht genommen werden. Wir müssen dafür regionalen Handel stärken und dafür sorgen, dass in Afrika Wertschöpfung entsteht, die dann auch in den Ländern verbleibt und dort reinvestiert wird. Wir müssen Reformen gezielt unterstützen. Aber nochmal: Bitte nicht Reformen nach dem Gusto des IWF – das ist der Tod der Zukunft! Es geht mir um Reformen zu mehr Rechtsstaatlichkeit.

Eigene Interessen klären

Der Titel dieser Gesprächsrunde fragt auch nach den Grenzen deutscher Afrikapolitik. Das ist für mich als Politiker eine schwierige Frage. Denn wenn ich die Schere in meinem Kopf ansetze, brauche ich gar nicht erst anzufangen.

Dennoch wage ich mich an ein paar Thesen: Den Wandel können wir durch keine noch so gut gemeinte Afrikapolitik beschleunigen. Erstens braucht der Wandel Zeit; wir reden hier von Generationen. Zweitens bestimmen die Menschen in Afrika das Tempo und nicht wir. Eine Grenze besteht daher auch dort, wo afrikanische Partner sie ziehen. Mangelnde Rechtssicherheit und Korruption sind ein großes Hindernis und zeigen sicherlich auf unangenehme Art und Weise Grenzen auf. Außerdem müssen wir auf das Spiel der Weltmächte vorbereitet sein: Die Rolle Chinas und in zunehmendem Maße auch Russlands setzen uns Grenzen.

Zum Schluss ein Wort zu China. Ein namibischer Vizeminister, der für Staatsunternehmen zuständig war, hat mich einmal ganz bissig gefragt, warum wir so ein Problem mit dem chinesischen Engagement in Afrika hätten? Schließlich wollten die doch das gleiche wie wir Europäer: An die Rohstoffe kommen.

Mir scheint, als müssten wir noch eine große Hausaufgabe erledigen, wenn es um eine Afrikapolitik geht. Wir müssen uns darauf verständigen, was eigentlich unsere Interessen sind. Und wir müssen wissen, was die Interessen Afrikas sind – bzw. der Ebene, mit der wir verhandeln. Das sind die Voraussetzungen für eine Verständigung auf Augenhöhe.

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(1) Ausführlicher und anschaulich dargestellt in: Dominic Johnson, „Afrika vor dem großen Sprung“, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2011.